Die Fachliteratur
Leider gibt es kaum wissenschaftliche Ausführungen zu dem Thema und wenn man die Fragestellung in allen möglichen Variationen in Google eingibt, erhält man eigentlich keine zufriedenstellenden, sofortigen Ergebnisse. Das Thema hat jedoch glücklicherweise die Aufmerksamkeit einiger weniger Expertinnen und Experten geweckt, die darüber etwas publiziert haben. So hat Viorica Marian, Professorin an der Northwestern University, kürzlich „The Power of Language: Multilingualism, Self and Society“ veröffentlicht. In ihrem Buch geht sie unter anderem auf die Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf unsere Persönlichkeiten ein. Ähnlich wie Trevor Noah wuchs die Autorin in Moldawien auf, spricht sowohl Rumänisch als auch Russisch und hat außerdem Englisch auf professionellem Niveau gelernt. Letztere ist inzwischen ihre bevorzugte Sprache, wenn sie sich in der Welt der Wissenschaft zu Wort meldet. Sie beschreibt den Gebrauch des Englischen in ihrem beruflichen Umfeld als Möglichkeit, sich von den Zwängen zu befreien, denen eine Frau in ihrer Muttersprache ausgesetzt ist – sie nimmt eine andere Rolle ein. Diese Erfahrung gab den Anstoß dazu, das Buch zu schreiben. Irgendwann werde ich die Zeit finden und ihr Werk in Gänze lesen. Die mir bislang zur Verfügung stehenden Informationen sprechen jedoch dafür, dass sie klar davon ausgeht, dass mehrsprachige Personen in ihren jeweiligen Sprachen unterschiedliche Persönlichkeiten haben. Sie untermauert ihre Argumentation dabei mit ihrem psychologischen Fachwissen. Ihr Buch ist mit Sicherheit auch von ihren eigenen Erfahrungen beeinflusst worden. Daher ist es schwierig, persönliche Meinung und tatsächlichen Beweis eindeutig voneinander abzugrenzen, ohne das Buch im Detail studiert zu haben.
Auf Reddit und YouTube sind viele verschiedene Meinungen vertreten. Auf der einen Seite findet sich ein eher akademischer Ansatz, der Noahs These widerspricht. Auf der anderen Seite präsentieren sich YouTuber mit ihren Erfahrungen, um Noahs Theorie zu stützen. Wie so oft in Social Media kann man für jede Meinung die passenden Argumente finden und dann das Gefühl haben, dass die eigene Ansicht damit bestätigt wurde. Am Ende scheinen sich beide Seiten jedoch in der Mitte zu treffen und einander sogar in der Beweisführung zu ergänzen. Mariam Abeje erklärt in ihrem TED-x-Talk „Two Languages, Two Personalities?“, dass sie sich selbst in ihren jeweiligen Sprachen anders „darstellt“, wenn sie redet (sie ist von Geburt an zweisprachig aufgewachsen). Sie erörtert außerdem den kulturellen Einfluss, wenn man in zwei Ländern lebt und von Anfang an beide Sprachen spricht. Dem Grundtenor ihrer Erfahrungen nach scheint sie sich der Theorie der unterschiedlichen Persönlichkeiten anzuschließen. Denn sowohl ihre eigenen als auch die anderen von ihr angeführten Beispiele legen dar, dass man durch Kultur, Erziehung, Aufenthalte in anderen Ländern und den Druck des Erwachsenwerdens und der Selbstfindung geformt und gefördert wird (mit diesen aufgelisteten Faktoren können sich viele Menschen identifizieren, denke ich). Solche Rahmenbedingungen bilden die Grundlage für die Entwicklung der Persönlichkeiten. Nichtsdestotrotz kann ich nachvollziehen, warum Menschen so sehr an ihren verschiedenen Persönlichkeiten festhalten, und ich fordere sie auf, nicht an dieser Überzeugung zu zweifeln, wenn es ihre Realität als mehrsprachige Menschen erklärt.
Chat GPT
„Mehrsprachige Personen können beim Wechsel zwischen Sprachen eine leichte Veränderung im Kommunikationsstil oder in der Gefühlsäußerung erfahren, doch diese Unterschiede lassen sich normalerweise auf kulturelle und kontextbezogene Faktoren statt auf eine grundlegende Veränderung in der Persönlichkeit zurückführen. Die wesentlichen Aspekte einer Persönlichkeit bleiben in der Regel über verschiedene Sprachen hinweg gleich.“
Chat GPT hatte einige Probleme damit, diese Frage richtig zu verstehen! Zuerst ging der Chatbot auf Code-Switching ein. Damit ist die Fähigkeit gemeint, zwischen gesprochenen Sprachen hin- und herzuwechseln, aber nicht unbedingt die verschiedenen Persönlichkeiten, die jemand möglicherweise für jede seiner Sprachen aufweist. Die obige Antwort unterstreicht jedoch die überwiegende Meinung, die ich bislang wahrgenommen habe – und ist eine gute Hinführung zu meiner eigenen Ansicht in Bezug auf dieses Thema.
Es liegt nicht etwa daran, dass mein Vokabular im Deutschen schlecht oder ich irgendwie schüchtern wäre, sondern daran, dass meine deutsche Persönlichkeit über die Jahre einen Filter angewendet hat, basierend auf sozialen Normen, Gesprächsformen und verständlichen Interpretationen meiner Art von Humor (um nur einige Beispiele zu nennen), um sich dem Alltagsleben anzupassen. Meine englische Persönlichkeit kann offener über Gefühle sprechen und komplizierte Ideen klarer analysieren. Meine deutsche Persönlichkeit kann wiederum besser über Prozesse und arbeitsbezogene Themen reden. Im Englischen müsste ich da tatsächlich nach passenden Wörtern suchen, da ich all meine Arbeitserfahrung nur in Deutschland gesammelt habe. Sind das darum aber verschiedene Persönlichkeiten? Ganz ehrlich: Trotz aller wissenschaftlichen Ausführungen, die Letzteres nahelegen, ist es meiner Ansicht nach einfach eine Frage von sozialen, sprachlichen und beruflichen Erfahrungen, die sich in ihrem eigenen Raum entfalten. Es ist ein Zustand, der damit zusammenhängt, dass man unterschiedlichen Normen akzeptiert, die dann im Alltag ihre Anwendung finden. Ich fühle mich in jeder Sprache wie dieselbe Person, habe die gleichen Interessen und mag das gleiche Essen – ich wechsele nur die Sprache, in der ich rede oder denke, um mich über Aspekte meines Lebens aus der jeweiligen kulturellen Perspektive heraus zu äußern. Ein anderes Beispiel aus meiner Zeit in Großbritannien ist die Tatsache, dass ich mehr als einen Dialekt beherrsche: In der Schule und wenn ich unterwegs war, sprach ich Yorkshire-Englisch, zu Hause wiederum eine Mischung aus neutralem und amerikanischem Englisch. Es heißt, dass ein Wechsel des Dialekts oder der Sprache eine Reihe von Fähigkeiten beim Sprechenden fördere (z. B. Multitasking, Problemlösung, Abruf von Erinnerungen, Kreativität und sogar bei einer späteren Demenzerkrankung hilfreich). Dadurch werden Teile des Gehirns weiterentwickelt, die sich bei einer einsprachigen Person vermutlich nicht in dieser Weise entfalten.
Was bedeutet diese Idee für die Sprachdienstleistungsbranche?
Dieser Gedanke ist von hoher Relevanz, allerdings nicht in Bezug auf eine Person und ihre vielfachen Sprachpersönlichkeiten, sondern hinsichtlich der Art von Texten, mit denen wir täglich beruflich zu tun haben. Eine Eins-zu-eins-Übersetzung oder ein rein maschinell übersetzter Beitrag wird sicherlich brauchbar sein, hätte aber einen ganz anderen Ton, wenn der Text gleich in der Zielsprache verfasst worden wäre. Dasselbe gilt für Kundinnen und Kunden und ihre Erwartungen an einen Text, den sie in einer Fremdsprache geschrieben haben. Es wirkt sich auch auf die Zeit und die kulturellen bzw. fachspezifischen Kenntnisse aus, die dafür nötig sind, den Text so zu lektorieren und zu adaptieren, dass er sich für eine muttersprachliche Leserin oder einen muttersprachlichen Leser authentisch anfühlt. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass eine ordentliche stilistische Überarbeitung mit sehr vielen Anpassungen einhergeht, die ein nichtmuttersprachliche Person vermutlich als nicht notwendig erachtet, die aber zwingend sind, um den fraglichen Text in ein natürliches, stimmiges Schriftstück zu verwandeln. Im Vergleich würden sich die beiden Textversionen womöglich sehr voneinander unterscheiden. Sind sie dennoch derselbe Text? Gleichen sie sich in ihrem Kern? Darauf gibt es keine objektive Antwort, denn das Ergebnis hängt stark von den Fähigkeiten und der Erfahrung der Linguistin oder des Linguisten ab, die oder der wiederum die Fähigkeiten und die Erfahrung des ursprünglichen Autors interpretiert. Vielleicht würde eine Kultur der offenen Kommunikation und engen Zusammenarbeit zwischen Sprachexpertinnen und -experten, Kundinnen und Kunden dazu führen, dass die unzähligen Texte, die in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, einen ganz eigenen Charakter erhalten und am Ende dann Sprachprodukte entstehen, die von der modernen Technologie noch nicht nachgeahmt werden können.
Was denken Sie über das Thema Sprache und Persönlichkeit? Teilen Sie uns sehr gern Ihre Meinung dazu mit!
Haben Sie Fragen rund um die Themen Sprache und Corporate Language oder benötigen Sie Unterstützung bei der Erarbeitung eines Styleguides?
